übergangsphase

Die Frau in der Übergangsphase

In der Übergangszeit zeigt sich nicht nur die Wesensart des Kindes, sondern noch viel deutlicher die Frau in ihrem Ich. In dieser Phase der Geburt wird das wirkliche Temperament einer Frau ganz deutlich sichtbar. Gebären heißt nicht umsonst »das Innerste nach außen kehren«. Frauen, die ihr ganzes Leben alle bedeutenden Situationen alleine gemeistert haben, werden auch die Geburt im Alleingang erleben. Dies heißt für die Begleitpersonen, dass sie sich eher als Außenstehende fühlen werden, dass der Partner zwar da sein sollte, aber nichts, überhaupt gar nichts »machen« kann. Seine Frau wird vielleicht sagen: »Bleib da, geh nicht weg, aber lass mich in Ruhe.« Sie gibt damit allen zu verstehen, dass sie allein gebären kann und will. Sie wird mit einer Stärke und einem Selbstbewusstsein ihr Kind zur Welt bringen, wie sie sonst im Leben mit Überzeugung ihre Entschlüsse und Entscheidungen trifft, ohne andere zu fragen.

 

Frauen aber, die in ihrem bisherigen Leben nie eigene Wege gegangen sind, sich immer von anderen Menschen leiten ließen, die anlehnungs- und hilfebedürftig sind, werden sich bei der Geburt ihrer Kinder freuen, es geradezu benötigen, sich anzulehnen und Hilfe von tatkräftigen massierenden Händen zu erhalten. Diese Frauen werden wie auch in ihren bisherigen Lebenssituationen ihre Gefühle sehr deutlich mitteilen. Die Geburt wird spätestens in der Übergangsphase begleitet sein von den Worten der Gebärenden: »Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Ich möchte jetzt heim, aber kein Kind. Mach doch du weiter, bekomm doch du das Kind. Lieber möchte ich sterben, als das Kind zu gebären.« Oder aber: »Es ist alles so geil, ich werd verrückt, ich kenn mich so ja gar nicht, es sollte einfach nie aufhören. Wow, das ist nicht auszuhalten, aber trotzdem einfach gigantisch!« Es wird also eine stimmungsgeladene Geburtsatmosphäre entstehen. So teilte mir Herr W. einige Tage nach der Geburt am Telefon mit: »Ich bin fasziniert, ich wusste gar nicht, dass meine Frau so emotional sein kann. Jetzt weiß ich, warum das nicht zu beschreiben ist, sondern einfach erlebt werden muss.«

 

Spätestens in der Übergangsphase muss die Frau ihre Leistungsgrenze überschreiten

Die Übergangswehen bedeuten für eine gebärende Frau, über sich selber hinauszugehen, ihre Leistungsgrenze zu überschreiten, zumindest beim ersten Kind ein ihr bislang unbekanntes Ich zu erleben und sich ganz und gar für das Kind zu öffnen. Es gibt Menschen, die im Sport immer wieder ihre Leistungsgrenze suchen und auch darüber hinausgehen. Wenn sie dies schaffen, ist das angestrebte Ziel schnell erreicht. Doch genau in dieser Situation brauchen sie einen Trainer, der weiß, was er erwarten und verlangen kann. Auf eine Geburt übertragen bedeutet dies, dass Sie in der Übergangsphase, vielleicht zum ersten Mal in Ihrem Leben, Ihre Leistungsgrenze überschreiten müssen, dass Sie ebenfalls Trainer und anfeuernde Fans benötigen, um die Geburt zu meistern. Sie können nicht auf halber Strecke liegen bleiben, das Kind möchte und muss geboren werden.

 

Die geburtsbegleitenden Personen, der werdende Vater, die Hebamme und eventuell eine Ärztin, müssen Sie durch diese Übergangsphase in die letzte Phase der Geburt tatkräftig begleiten, mit Händen und insbesondere mit Worten und Tönen helfen, denn gebären müssen Sie allein. Sie brauchen ganz einfach Vertrauen und Zuspruch, dass Sie es schaffen, denn das Ende, das Ziel, sind die Presswehen und das Sehen, Hören und In-Händen-Halten Ihres Kindes.

 

Es ist mir, als Frau und als Hebamme, bewusst, dass es eine enorm prägende Situation für jede Frau ist, dies zu schaffen, dies erleben zu können und zu müssen. Daraus entsteht irgendwann sehr viel Lebenskraft. Ich weiß aber auch, dass es für viele fast unüberwindbar scheint, diese Phase der Geburt hinter sich zu bringen. Allein das Bewusstsein, dass womöglich fremde Menschen ihre innersten Gefühle miterleben, kann es ihr – wegen ganz natürlicher Scham und Scheu – unmöglich machen, sich diesem Moment hinzugeben und ganz zu öffnen. Diese Übergangsphase gleicht einer körperlichen Ekstase, die eigentlich nur im sexuellen Bereich nachzuempfinden ist, der nur mit dem geliebten Partner allein erlebt wird. Viele schaffen es nicht einmal da, sich wirklich ganz und gar gehen zu lassen. Fremden Menschen ist der Einblick in diese tiefe Gefühlswelt nicht gestattet. Eigentlich ist es verständlich, wenn solch große Hemmschwellen vorhanden sind, die die Geburt in fremden Räumen und in Anwesenheit fremder Menschen nicht vorangehen lassen und schließlich ein Eingreifen der Mediziner erfordern. Denn immer wieder ist im Klinikalltag in dieser Geburtssituation eine medikamentöse Leitung der Geburt notwendig, um einen Geburtsstillstand zu vermeiden.

 

Autor: Ingeborg Stadelmann

Fotocredit: wavebreakmedia/Shutterstock.com

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